Die tödlichen Folgen des „Fringsen“
„Trotzdem mein Mann nie abends fortgegangen ist, sagte er mir am gestrigen Abend, dass er die Absicht habe, bis zum Güterbahnhof zu gehen, um evtl. etwas Kohle zu beschaffen. Etwa um 23.00 Uhr verliess er die Wohnung und ist nicht mehr zurückgekehrt“
Der Archivfund des Monats Oktober tangiert zwei wesentliche Erfahrungen der Nachkriegszeit in Deutschland. Die Besatzung und die angespannte Versorgungslage. Die Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 war die Phase zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung der zwei deutschen Staaten – der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Das besetzte Deutschland wurde 1945 zwischen den Alliierten aufgeteilt. Laatzen und die Provinz Hannover wurden Teil der Britischen Besatzungszone.
In vergangenen Archivalien des Monats hatten wir uns bereits mit der Hungers- und Wohnungsnot beschäftigt. Auch der Kohlemangel gehörte zu einer Herausforderung der Nachkriegszeit – der Kohlenklau wurde in dieser Zeit zu einer Massenbewegung. Selbst der Kölner Kardinal Joseph Frings zeigte Verständnis dafür, dass die hungernden und frierenden Menschen in ihrer Not raubten, was sie zum Überleben brauchten und legal nicht bekamen. Aus diesem Grund wurde der Kohlenklau im Rheinland und darüber hinaus bald als „Fringsen“ bezeichnet. „Gefringst“ wurde offensichtlich auch in Laatzen. Am späten Abend des 22. Februar 1947 machte sich der Arbeiter H. P. aus Laatzen auf, um etwas Kohle für seine Familie zu besorgen. Sein Ziel war der Güterbahnhof Hannover-Wülfel. Dort war an diesem Abend ein amerikanischer Lebensmitteltransportzug aus der Richtung Hannover kommend stehen geblieben. Der Zug musste halten, da von etwa vier Waggons die Achsen heiß gelaufen waren. Die vier Waggons wurden abgekoppelt und auf einem Nebengleis abgestellt, während der Transportzug seine Fahrt fortsetzte. Zur Bewachung der beladenen Waggons wurden zwei Angehörige der amerikanischen Militärpolizei zurückgelassen.
Was dann genau passierte, ließ sich nur noch grob rekonstruieren. Offensichtlich wurde H. P. bei der Flucht, ohne etwas geklaut zu haben, in etwa 30 Meter Entfernung vom Waggon von hinten erschossen. Angeblich war er in Begleitung einer Person gewesen, die allerdings entkommen konnte. P. hinterließ eine Frau und ein minderjähriges Kind. Bei dem Fall handelte es sich um einen sogenannten „Besatzungsschaden“, der nach den „Richtlinien für die Behandlung von Schadensersatzansprüchen aus Vorfällen und Unfällen, die durch Angehörige der US-Besatzungsmacht in der britischen Zone hervorgerufen wurden“ zu bearbeiten war. Seine Witwe G. P. stellt einen Antrag auf Schadensersatz gegen die USA. Warum der Antrag erst über eineinhalb Jahre später eingereicht wurde, erklärte ein Gutachten der Gemeinde Laatzen vom 14. Februar 1949. Demnach war die Frau P. durch das Ereignis „so schwer getroffen, dass sie in den ersten Monaten nach dem Vorfall nicht wusste, was sie anfangen sollte“. Die Schuldfrage war auch knapp zwei Jahre nach dem Vorfall immer noch nicht restlos geklärt. Die Gemeinde schlug vor, den Antrag der Witwe in voller Höhe anzuerkennen, falls die Schuld der amerikanischen Soldaten erwiesen ist. Leider ist der Akte nicht zu entnehmen, ob Schadensersatz gewährt wurde.