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Ausschnitt eines Schriftstück. Zu lesen ist der Absender und eine Überschrift.

Die Hungerkrise nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Probleme des täglichen Überlebens zu einer prägenden und kollektiven Grunderfahrung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung. Mit der Wohnungsnot haben wir uns in dem Archivfund des Monats Januar 2022 bereits beschäftigt. Die zweite große Herausforderung der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg war der Hunger. Nach Kriegsende wurde das nationalsozialistische Versorgungssystem im Wesentlichen beibehalten. Die Ernährungswirtschaft wurde zwischen 1939 und 1950 hauptsächlich von zwei Säulen getragen: Dem Bewirtschaftungssystem, welches die Landwirtschaft reglementierte, und dem Rationierungssystem, das die Verbraucher mit Lebensmitteln versorgte. Dabei wurden Lebensmittel mit Hilfe von Bezugsscheinen aufs Gramm genau an die Menschen verteilt. Die Höhe der ausgegebenen Rationen wurde vom Frankfurter Wirtschaftsrat auf Weisung der Alliierten festgesetzt. Innerhalb der „Rationen-Gesellschaft“ der Nachkriegszeit kann eine Differenzierung vorgenommen werden: So gab es die Selbstversorger, deren Anteil in ländlichen Regionen größer war als in Städten und die in der Regel den besten Lebensstandard hatten, da sie dem staatlichen Zuteilungssystem nicht unmittelbar unterworfen waren. Innerhalb der schlechter versorgten Gruppe der Normalverbraucher gab es eine Altersstaffelung. Das komplexe Verteilungssystem wurde durch Zulagekarten für bestimmte Gruppen weiter ausdifferenziert: Arbeiter, Kranke, Alte und Schwerbeschädigte, werdende und stillende Mütter, politisch Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge erhielten Lebensmittelzulagen.[1]

Im vielen Regionen stellte das Jahr 1947 den Höhepunkt der Hungerkrise dar. Verantwortlich dafür war vor allem der Winter 1946/47, der als einer der härtesten des gesamten Jahrhunderts gilt, bereits Mitte Dezember einsetzte und bis März 1947 andauerte. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer schrieb am 10. Dezember 1946 in einem Privatbrief: „Ich hoffe, daß der größte Teil des deutschen Volkes diesen Winter übersteht. Aber die Verhältnisse sind sehr ernst und sehr traurig…“.[2] So gab es etwa zwischen April und Juni 1947 in fast allen Teilen Westdeutschlands nur zwischen 850 und 1050 Kalorien am Tag. Besonders dramatisch war die Lage in Hannover: Anfang 1947 standen den Hannoveranern nur 770 Kalorien täglich zur Verfügung. Im April waren es für Normalverbraucher immer noch unzureichende 852 Kalorien pro Tag. Leider gibt es im Stadtarchiv keine Quellen zu den Zuteilungen in Laatzen und den anderen heute zur Stadt Laatzen gehörenden Gemeinden. Es ist aber davon auszugehen, dass die Rationen für Normalverbraucher vergleichbar wie die in Hannover waren. Allerdings dürfte die Ernährungslage in Laatzen, Grasdorf, Rethen, Gleidingen, Ingeln und Oesselse insgesamt doch besser gewesen sein als in der benachbarten Großstadt. Aufgrund der ländlichen Prägung der kleinen Gemeinden war der Anteil an Selbstversorgern sicherlich wesentlich höher. Und der Weg der Normalverbraucher zum nächsten Landwirt, um Lebensmittel zu tauschen, zu klauen oder idealerweise geschenkt zu bekommen, war deutlich kürzer als für viele Großstädter.

Der Frust der Bevölkerung über die anhaltende Versorgungskrise entlud sich in einer Streik- und Protestwelle. Auch in Hannover kam es zu einer Massendemonstration:

„Wir wollen mehr zu essen“ steht auf Transparenten, als sich am 9. Mai 1947 Zehntausende zu einer gewerkschaftlichen Hungerdemonstration auf dem Klagesmarkt versammeln.[1] Zu allem Überfluss folgte auf den Jahrhundertwinter ein Jahrhundertsommer. Der August 1947 galt als trockenster Monat der vergangenen hundert Jahre.

Besonders betroffen von der Ernährungskrise waren die Armen und Schwachen, die Rentner, Witwen und Waisen. Im Aktenbestand der Gemeinde Oesselse ist ein Aufruf der Kreisarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände im Kreise Hildesheim-Marienburg vom 2. November 1948 überliefert. Das Schreiben war unter anderem an die Gemeindedirektoren und örtlichen Ernährungsausschüsse im Landkreis gerichtet. Die Bevölkerung der Gemeinden wurde zu einer Spende von Einkellerungskartoffeln für die Rentner, die Witwen und Waisen der Stadt Hildesheim aufgerufen. In dem Aufruf hieß es: „Durch den Krieg sind weite Schichten unseres Volkes verarmt. Die Geldabwertung hat diese Not größer werden lassen. Viele, die bisher ihren Lebensunterhalt aus eigenen Ersparnissen bestreiten konnten, sind hilfsbedürftig geworden und bedürfen dringend unserer Hilfe. Ihre Renten sind so gering, daß sie kaum zur Bestreitung des notwendigsten Lebensbedarfs reichen. Die Beschaffung der Winterkartoffeln ist diesen Personen infolge Mangel an Geldmitteln gänzlich unmöglich.“ Da die diesjährige Kartoffelernte „im allgemeinen gut ausgefallen“ sei, hofften die Wohlfahrtsverbände, dass „die Landwirte aus dem Segen ihrer Felder dieses Opfer gern bringen werden, in dem Bewußtsein, ihren Mitmenschen, die schuldlos in Not geraten sind, geholfen zu haben.“ Leider ist nicht überliefert, ob und wie viele Landwirte der Gemeinde Oesselse diesem Aufruf folgten.

Um überhaupt überleben zu können, waren viele Deutsche auf eine illegale Zusatzversorgung angewiesen. Weit verbreitet waren Schwarzmarktaktivitäten, aber auch andere Formen der illegalen Zusatzversorgung wie Hamstern, Eigentumsdelikte, Lebensmittelkartenfälschung oder das Erschleichen von Zusatzkarten. In den Schreiben des für Laatzen zuständigen Ernährungsamtes Hannover-Linden an die Gemeinde Laatzen wird vor der Hungerkriminalität gewarnt. So wird in dem Rundschreiben vom 9. September 1947 auf zwei Lebensmittelkartenschwindler hingewiesen. Der erste Vorfall betraf einen Mitarbeiter des in Seelze gastierenden Zirkus „Adolfo“: Ein Herr Roman W. wollte für den Arbeiter Werner M. bei der Kartenstelle Seelze eine genehmigte Krankenzulage abholen – die er auch erhielt. Zwei Stunden später am gleichen Tage kam Werner M. und bat auf Grund eines Schreibens vom Zirkus „Adolfo“ um Lebensmittelkarten. Auch Werner M. erhielt die Marken. Die Polizei stellte später fest, dass Werner M. doppelt Lebensmittelkarten bezog. Man hoffte nun, den Schwindler in Sarstedt zu schnappen, wo der Zirkus als nächstes gastierte.

Der zweite Fall betraf ebenfalls das Erschleichen von Zusatzmarken – diesmal die Lebensmittelkarte für werdende Mütter. Hier wurde eine ärztliche Bescheinigung, eine Vollmacht und eine Unterschrift gefälscht. Auch einige Landwirte versuchten sich Vorteile zu verschaffen, indem sie sich dem die Landwirtschaft reglementierenden Bewirtschaftungssystem zu entziehen versuchten – etwa durch den Verkauf ihrer Erzeugnisse auf dem Schwarzmarkt. In einem Sonderrundschreiben wandte sich das Kreisernährungsamt des Landkreises

Hildesheim-Marienburg am 2. August 1948 an die Gemeinden und verwies auf eine „katastrophale Lage“, die u.a. auf den ins Stocken geratenen Absatz von Frühkartoffeln zurückzuführen sei. Dies sei auch damit zu begründen, dass „die Anordnungen von den Erzeugern nicht eingehalten wurden.“ Die Gemeinden sollten die Erzeuger darauf aufmerksam machen, dass „in Zukunft in Hildesheim durch die Polizei Straßenkontrollen durchgeführt werden, die jeden Verkauf von Kartoffeln ohne Marken und unter Preis unterbinden.“

Die Ernährungslage besserte sich erst im Laufe des Jahres 1948. Verantwortlich dafür waren die Währungsreform, die amerikanischen Hilfsmaßnahmen aus dem Marshall-Plan und eine gute einheimische Ernte. Viele Bewirtschaftungsvorschriften wurden in den folgenden Monaten gelockert. Im April 1950 endete in der Bundesrepublik Deutschland endgültig das Rationierungssystem.

 

[1] Vgl. dazu: Rainer Gries: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, 1991.

[2] Günter J. Trittel: Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945–1949), 1990, S. 81.

[3] Wie Hannover die Hungerjahre durchlebte, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27.04.2015.